Im 21. Jahrhundert war eine Persönlichkeit wie Walter Scheibli in der Medienszene so exotisch wie ein domestizierter Dinosaurier im Zürcher Zoo. Die Lokalradios hatten sich bereits zu seiner Zeit vom Nachrichtenmedium zu Dudelstationen gewandelt. Den Sportreportern blieben nur noch Sekunden für ihre Durchsagen. Länger als zwei Minuten waren tabu.
Vorbei die goldenen Jahre, als das Radio das wichtigste Sportmedium war und die Männer, die uns stundenlang live in die Stube berichteten, Kultstatus hatten: An die Stimmen von Henri Eggenberger, Jean-Pierre Gerwig, Hans Estermann oder Sepp Renggli erinnern wir uns wie an die Oldies unserer Jugendzeit. Das Fernsehen hat uns diese Romantik genommen. Der Sport findet nur noch in Bildern und nicht mehr im Kopfkino statt.
Aber Walter Scheibli hatte die Zeit angehalten. Er berichtete schon über den ZSC, als Radio 24 noch illegal vom Piz Groppera sendete und bei Radio 24 hat er sogar Roger Schawinski überlebt. Noch an seinem 80. Geburtstag, am Sonntag, 14. Oktober 2012 berichtete er für Radio 24 aus dem Hallenstadion über die Partie ZSC Lions gegen den EHC Biel. Die Zürcher gewannen 4:1.
Was macht das Phänomen Walter Scheibli aus? Es sind verschiedene Faktoren. Erstens einmal verkörperte er wie niemand sonst die alte ZSC-Kultur der Dramen und Krisen und rettete sie in die neue Zeit hinüber. Charme und Romantik des alten, verrauchten Hallenstadions und die alten Helden waren schon lange nicht mehr.
An diese «Belle Epoque» erinnerte uns nur noch die Stimme von Walter Scheibli. Wenn wir ihn hörten, reisten wir zurück in die Zeit, als der ZSC noch ein unverwechselbares Kulturgut der Stadt Zürich, ein Krisenclub zwischen höchster und zweithöchster Liga war und noch nicht einfach ein sehr gut «gemänätschtes», mächtiges und erfolgreiches Sportunternehmen wie heute.
Zweitens hatte Walter Scheibli seinen ganz eigenen Stil. Akustisch und optisch. Unverwechselbar. Mit seiner heiseren, an Joe Cocker mahnenden Stimme, konnte er so kultig wie sonst kein Mensch «Tsättäszee» sagen. Und er hatte die unverwechselbare kurz-prägnante Resultatdurchsage erfunden, die tönte wie ein Hockey-Rapp: «Tsättäszee vier, Biel null.» Also nicht wie die gewöhnlichen Reporter sagen: «Der ZSC führt im Hallenstadion gegen Biel sechs Minuten vor dem letzten Sirenenton vier zu null.»
Ein ZSC-Tor verkündete er stets dreimal: «Goool, Goool, Goooool». Und alles immer im unverwechselbaren gelben Pullover auf der Medientribüne. Walter Scheibli ist bis heute der einzige Sportreporter der Welt, der von den Fans regelmässig in Sprechchören gefeiert wurde. «Waaalti Scheibli» echote es im Hallenstadion tausendfach von den Rängen. Auch noch in den letzten Jahren im Hallenstadion, als er schon nicht mehr als Radioreporter arbeitete und einfach ein gerngesehener Matchbesucher war.
Drittens war Walter Scheibli eine ganz besonders liebenswürdige Persönlichkeit. Er liebte den Sport. Er beherrschte wie kein anderer die charmant-sympathische Parteilichkeit für einen Klub, den ZSC. Sie war unüberhörbar und doch stets voller Anerkennung und Respekt für den Gegner. Und in Krisen widerstand er der Versuchung der Häme. Sein direkter, unverwechselbarer und doch behutsamer Interview-Stil war deshalb nie verletzend. Walter Scheibli hatte eine so liebenswürdige Art, die Dinge zu sagen, dass er am Radio hätte erzählen können, Präsident Walter Frey sei ein schäbiger Sozialhilfeempfänger – und niemand hätte es ihm übelgenommen.
Viertens die Kontinuität. Seit der Saison 1982/83 berichtete Walter Scheibli über die Spiele des Zürcher Hockey-Stadtklubs. Seit 1939 war er ZSC-Fan – die Dauer dieser Karriere und diese Liebe zum Klub sind und bleiben einmalig.
Fünftens das Medium. Beim staatstragenden Radio wäre eine Figur wie Walter Scheibli nicht möglich gewesen. Nur bei einem als Piratensender gegründeten Lokalradio wie Radio 24 konnte er sich entfalten. Nur dort hat er die Freiräume bekommen um, seinen unverkennbaren Stil zu entwickeln und nur bei einem Lokalradio war diese Identifikation mit einer Mannschaft und diese Parteilichkeit überhaupt möglich.
Sechstens die Herkunft. Walter Scheibli war ein Urzürcher und nur zwei Jahre jünger als der ZSC. Er ist im Milchbuck-Quartier auf halbem Weg zwischen dem Hallenstadion und dem Dolder aufgewachsen und hat seinen Wohnsitz dort behalten. Bevor er Sportreporter wurde, war er Sportler. Jugendriegler, Sektionsturner und Handballgoalie beim TV Oberstrass Zürich. Von den C-Junioren der Young Fellows stieg er via Etoile Sporting La Chaux-de-Fons, Martigny Sports und Red Stars ins Vorzimmer der Schweizer Fussballgoalie-Elite auf.
Der kleine, reflexschnelle Linien-Spektakelkeeper, dessen Stil, so wird berichtet, ein wenig an Jean-Marie Pfaff mahnte (Bayern), brachte es mit den Young Fellows auf drei NLA-Einsätze und ein paar Einwechslungen, ehe er seine Karriere beim FC Oerlikon und dem FC Unterstrass ausklingen liess.
Seinen Lebensunterhalt hatte er aber über eine lange Zeit nie ausschliesslich als Radioreporter verdient. Nach der Sekundarschule machte er eine Bäckerlehre und wurde Eidg. Dipl. Bäcker-Patissier. Später besuchte er eine Handelsschule, bildete sich sprachlich im Welschland weiter und arbeitete jahrelang im Aussendienst.
Die ZSC Lions wussten sehr wohl, was sie an Walter Scheibli hatten. Kein anderes Sportunternehmen hatte einen Sympathieträger wie Walter Scheibli. Einst durfte er sogar im Mannschaftsbus zu den Auswärtsspielen reisen und der ehemalige ZSC-Präsident Fredy Duttweiler chauffierte ihn in den Wilden NLB-Zeiten der 1980er-Jahre im Lamborghini.
Auch als es um Walter Scheibli still und einsam wurde, nach dem Umzug in den neuen Hockey-Tempel, nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes kümmerte sich der Klub und vor allem auch die Mitglieder des Vereins ZSC weiterhin um ihn und ermöglichten ihm die Matchbesuche im neuen Stadion. Die ZSC Lions werden am Donnerstag im Rahmen des Heimspiels gegen Zug seiner gedenken.
Walter Scheibli war für die ZSC Lions, was Foster Hewitt (1902 – 1992) für die Toronto Maple Leafs war. Foster Hewitt ist bis heute Kanadas berühmtester Radioreporter. Wie Walter Scheibli hatte er seinen ganz eigenen Stil. Er begrüsste seine Zuhörer zu jeder Übertragung mit «Hello, Canada, and hockey fans in the United States and New Foundland.»
Die Medientribüne im neuen Stadion der Toronto Maple Leafs heisst «Foster Hewitt Media Gondola». Es wäre eigentlich nur recht, wenn nun die Medientribüne im neuen Hockeytempel in «Walter Scheiblis Pressbox» oder so gekennzeichnet würde.